RENATE HOFFMANN
von ANNE FREYTAG
Selfpublished über CreateSpace Independent Publishing
Platform
Erschienen im September 2013
ISBN 978-1-48409-720-5
Format: Taschenbuch
Preis: 9,90 Euro
Seiten: 300
Schon ziemlich zu Anfang dieser Lektüre, mehrmals mittendrin
und erst recht am Schluss geisterte mir eine Frage durch den Kopf: Warum zur Hölle lassen sich die großen Publikumsverlage dieses Bücherjuwel entgehen?
Denn wenn Anne Freytag eins bewiesen hat mit diesem Roman,
dann, dass sie schreiben kann. Und wie sie schreiben kann!
Sie bringt dem Leser eine völlig nichtssagende Protagonistin so glaubhaft rüber, dass man die Eintönigkeit und Langeweile in deren Leben als spannend
empfindet. Klingt unglaublich? Ist aber so! Ich habe die Geschichte der Renate Hoffmann von Anfang bis Ende genossen und regelrecht inhaliert. Dieser völlig eigenwillige
Schreibstil, der Zynismus, den die Autorin zumindest zu Beginn ihrer Protagonistin gegenüber an den Tag legt und die immer dramatischer werdende Geschichte bilden eine sehr starke Einheit, die
den Leser einfach gefangen nimmt. Immer wieder bekommt man einen neuen Aha-Effekt serviert und am Ende..., tja, da hatte ich einen dicken Kloß im Hals.
Sicherlich will keiner von uns mit Renate Hoffmann tauschen,
denn sie ist eine sterbenslangweilig Person. Sie arbeitet als Buchhalterin, trägt nur graue Kostüme, die allesamt gleich aussehen, hat keine Freunde, keinen Kontakt zur Familie und einen Partner
schon gar nicht. Sie guckt jeden Abend nach der Arbeit stumpf in den Fernseher und isst dabei jeden Montag dasselbe Mikrowellengericht, jeden Dienstag dasselbe Mikrowellengericht, usw. Nach dem
Abendprogramm wird akribisch Zahnpflege betrieben und dann geht es ins Bett - um an nächsten Tag aufzustehen und genau dasselbe zu machen wie am Tag davor und am Tag davor und davor und
davor.
Man könnte auch sagen, Frau Hoffmann lebt nicht, sie
existiert nur. Im wahren Leben würde man um so einen Menschen einen weiten Bogen machen, im Roman sitzt man jedoch feixend mit der Autorin auf dem Sofa in Renates völlig geschmackloser Wohnung,
bezeichnet sie als Sozialversagerin und zerreißt sich das Maul über sie.
Doch halt! Der Leser findet immer wieder versteckte Hinweise
darüber, dass Renate sieben Jahre zuvor äußerst lebendig war. Bis zu jenem Novembertag.....
Aber was passierte an diesem Tag? Was machte aus ihr diese
leere Hülle Mensch?
Das gilt es herauszufinden und genau diese Tatsache, dass
Renate offensichtlich mal ein gänzlich anderer Mensch war, weckt beim Leser große Neugier auf den Rest der Geschichte.
"Denn auch
wenn man es nicht sehen konnte, weil sie atmete und sich bewegte, so war Renate an diesem eisigen Novembertag gestorben und Frau Hoffmann wurde geboren. Sie würde leben, jedoch ohne lebendig zu
sein."
Zitat Seite 244
Nun ist es nicht so, dass Frau Hoffmann ihr Leben als normal
empfindet oder gar glücklich ist. Nein. Das ist sie ganz und gar nicht. Und deshalb beschließt sie das Naheliegendste: sich umzubringen. Ein Sprung vom ihrem Balkon aus dem elften Stock soll es
sein. Aber nicht heute. Da regnet es. Und wie würde ihre Leiche denn dann aussehen? So völlig durchnässt....
Außerdem ist es selbst Renate zu blöd, zu sterben, ohne
jemals eine Zigarette geraucht zu haben, ohne jemals einen richtig atemberaubenden Sternenhimmel gesehen zu haben und ohne auch nur ein einziges Mal in ihrem Leben masturbiert zu haben. Also wird
der Selbstmord kurzerhand ein paar Tage verschoben - und Renate kauft sich Zigaretten....
Und dann passiert das Kuriose: Plötzlich ist das Leben
leichter zu ertragen, plötzlich ist sie nicht mehr so zwanghaft pedantisch und plötzlich ertappt sie sich selbst immer öfter beim Lächeln. Plötzlich macht sie den Mund auf und hält mit ihrer
Meinung über andere nicht mehr hinter'm Berg (vor allem nicht mit ihrer Meinung über die neue Chefin, die sie sich damit auch direkt zur Feindin macht), plötzlich wird sie von den Kollegen
wahrgenommen und plötzlich starten Männer Flirtversuche bei ihr. - Aber das kann Renate ja alles völlig egal sein, denn schließlich wird sie in ein
paar Tagen tot sein....
Doch je mehr Renate aus sich herauskommt, desto öfter bekommt
der Leser auch Rückblenden aus ihrem Leben präsentiert. Aus einem Leben, das sie so werden liess wie sie nun ist und in ihr den Wunsch auslöste, tot zu sein.
Als Leser wird man immer kleinlauter, wenn man diese innere
Zerissenheit, diese große Leere und abgrundtiefe Trauer, die Renates Leben bestimmen, mit der vollen Breitseite zu spüren bekommt.
Plötzlich ist sie nicht mehr die schrullige Type, über die
man sich lustig macht, sondern ein Mensch, der viel durchlitten hat und den man am liebsten in den Arm nehmen und versichern möchte, dass alles gut wird.
MEIN FAZIT: Einfach nur großartig und eine absolute
Leseempfehlung! 5/5 BÜCHEREULEN
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