REALITY-SHOW
von AMÉLIE NOTHOMB

Diogenes Verlag (www.diogenes.ch)
Erschienen im Juli 2009
ISBN 978-3-257-23943-0
Format: Taschenbuch
Preis: 8,90 Euro
Seiten: 176

Aus dem Französischen von Brigitte Große 
Titel der Originalausgabe: Acide sulfurique



Ein Roman über eine reale Show im Fernsehen, die jenseits des Menschlichen ist. Produzenten und Mitwirkende, denen jegliche Gefühle abhanden gekommen sind. Zuschauer, die sich allein durch's Angucken schuldig machen. 
"Reality-Show" ist eine Geschichte über die immer schlechter zu befriedigende Sensationslust der Menschen. Über den Drang, besser, spektakulärer und grausamer zu sein als alles bisher Dagewesene. Voyeurismus in seiner abartigsten Form. 

In Frankreich startet eine neue Show im Fernsehen, die es so bisher noch nicht gegeben hat, die alles andere in den Schatten stellt. "Konzentration" heißt dieses TV-Format und funktioniert nach dem Big Brother-Prinzip: die Mitwirkenden befinden sich in einem abgesperrten Bereich und ihr Agieren wird rund um die Uhr durch Kameras aufgezeichnet.
Das Set? Einem Konzentrationslager nachempfunden. Die Mitwirkenden? Zwei Gruppen: die Kapos, die freiwillig mitmachen und bezahlt werden und die Gefangenen ... 

"Dann kam der Tag, an dem das Leid der anderen ihnen nicht mehr genügte; sie wollten die Show.
Es war keine besondere Qualifikation notwendig, um verhaftet zu werden. Überall fanden Razzien statt, sie nahmen jeden, ausnahmslos. Ein Mensch zu sein war das einzige Kriterium." - Zitat Seite 7

Big Brother lockt schon lange keine Zuschauer mehr an, daher muss etwas Neues her, etwas Spektakuläres, das für leere Straßen und hohe Einschaltquoten sorgt. Etwas, das das ganz ganz große Geld bringt.
Und so fängt schon mit dem ersten Satz dieser Irrsinn an. Leute werden von der Straße regelrecht weggefangen und als Häftlinge ins KZ gesteckt. Und genauso leben sie dort auch. Unter unmenschlichen Bedingungen, ohne Rechte und der Brutalität der Kapos, der Wärter, hilflos ausgesetzt. Selbst ihrer Identität werden sie beraubt, da sie fortan keinen Namen mehr haben, nur noch eine Nummer. Das Schlimmste? Täglich werden zwei Häftlinge von den Kapos ausgewählt, um dann vor laufenden Kameras hingerichtet zu werden. 
Ein Aufschrei des Entsetzens geht durch die Nation, die Zeitungen titeln "Stoppt diese Show!"- dennoch sprengen die Einschaltquoten sämtliche Rekorde. 

"Aber das Fernsehprogramm ist doch, wie Sie wissen, oft der einzige Gesprächsstoff, den die Leute haben. Deshalb müssen sie alle dasselbe sehen: um dazuzugehören und etwas zu haben, das sie mit anderen teilen können." - Zitat Seite 93

Würde eine solche Show wirklich funktionieren? (Im übertragenen Sinne: "Gefangene" sind der Willkür von "Wärtern" ausgeliefert.) - In Zeiten von Fernsehformaten, in denen irgendwelche Leute eklige Insekten essen, in Zeiten von jeglicher Skrupellosigkeit Tieren gegenüber, die "nur" als Fleischlieferanten dienen, in Zeiten, in denen Kinder den ganzen Tag vor dem Computer sitzen und Ballerspiele spielen, in Zeiten, in denen eine Horrormeldung nach der nächsten in den Nachrichten kommt, würde ich diese Frage nicht zwangsläufig verneinen.
Natürlich ist der Roman völlig überspitzt und übertrieben, aber vom Grundthema her würde so eine Show vermutlich leider tatsächlich funktionieren.

Einige Kritiker haben diesen Roman schlecht bewertet, vor allem, da ein so "großes" Thema in nur 176 Seiten untergebracht wurde. Weil vieles nicht angesprochen wird (Wieso greifen Polizei und Politiker nicht ein? Mit welcher rechtlichen Handhabe läuft diese Show?), weil vieles nicht weiter verfolgt wird.
Ich persönlich schätze es sehr, dass sich die Autorin hier nicht mit Nebensächlichkeiten aufgehalten hat, sondern in kurzen und klären Sätzen das Wesentliche auf den Punkt gebracht hat: Die Unmenschlichkeit gegen die Menschlichkeit.

Denn es gibt in diesem ganzen großen Irrsinn zwei Hauptprotagonisten, zwei Gegner, Gut und Böse.
Die Böse wird von Kapo Zdena verkörpert, einer dümmlichen Mittzwanzigerin, für die es nur ums Geld geht und die ihre immer schlimmer werdende Brutalität den Gefangenen gegenüber gelassen hinnimmt.
Die Gute ist zeitgleich der Männerschwarm, die Wunderschöne, die Kultivierte und der Publikumsliebling. CKZ114, wie sie nun heißt, fällt auch Kapo Zdena auf und löst, sehr zu deren Missfallen, erotische Gelüste in ihr aus. Zdena will mehr über CKZ114 erfahren, die sich aber eisern vor den Wärtern verschließt und sich damit immer schlimmerer Brutalität ausgesetzt sieht....

"Publikumsliebling zu sein war keine Lebensversicherung. Die Organisatoren rieben sich schon die Hände bei der Vorstellung, welches Spektakel ihr Todeskampf vor zehn Kameras abgeben würde." - Zitat Seite 43

Als irgendwann die Einschaltquoten sinken, gibt es eine Neuerung in der Sendung: ab sofort können die Zuschauer per Teletext abstimmen, wer hingerichtet werden soll. 
Und sofort steigen die Quoten wieder ins Unermessliche.....

Mich persönlich hat dieser Roman absolut beeindruckt, einfach weil er die Verdummung und Verrohung der Menschheit so trefflich beschreibt und sich dabei schonungslos, offen und ehrlich auf das Wesentliche beschränkt. Daher lautet MEIN FAZIT: 5/5 BÜCHEREULEN 





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